Auswilderung rehabilitierter Igel – mitten im Winter?

Bei der Auswilderung von rehabilitierten Igeln ist der Konsens von Auffangstationen, dass diese nicht im Herbst oder Winter ausgewildert werden dürfen. Berichte von Igelpflegestellen, die 300 Igel gleichzeitig überwintern, sind keine Seltenheit. Denn die Winterschläfer hätten im Falle einer Auswilderung zur kalten Jahreszeit nicht genug Zeit, sich eine geeignete Stelle auszusuchen, sich noch ein Nest (Hibernaculum) zu bauen und hätten deshalb verringerte Überlebenschancen mitten im Winter. In diesem Artikel schildern wir unsere persönliche Sicht der Dinge, basierend auf Erfahrungen und wissenschaftlichen Publikationen.

Die Herausforderungen der Überwinterung

Vor zehn Jahren, als wir unsere Tätigkeit in der Wildtierpflege aufnahmen, starteten wir mit der Information, Igel im späten Herbst und Winter unbedingt in Gefangenschaft überwintern zu müssen. Eine fundierte Begründung, warum das so sein muss, blieb aber aus. Denn Auffangstationen sind chronisch unterfinanziert, weswegen die finanziellen Möglichkeiten zur Besenderung und wissenschaftlichen Überprüfung lang etablierter Behauptungen ausbleiben. Also überwinterten wir die Igel in Außenvolieren, die sich in einem geeigneten Lebensraum befanden. Da wir von Anfang an Wildtierkameras in und um die Volieren installierten, fielen uns mehrere Schwierigkeiten dieser Methode auf:

Auswilderung am Fundort

Ob eine Auswilderung am Fundort wirklich wichtig ist, kann diskutiert werden. Es gibt zu verschiedensten Tierarten unterschiedliche Forschungsergebnisse über die Auswirkungen einer Translokation, sowohl im Bezug auf die Überlebenschancen als auch auf mögliche Folgen für lokale Populationen. Unser Zugang ist der, dass wir in der Wildtierrehabilitation möglichst wenig in die Natur eingreifen wollen. Daher entscheiden wir uns bei relativ immobilen oder standorttreuen Tieren üblicherweise für die Auswilderung am Fundort oder in unmittelbarer Fundortnähe. Zudem pflegen wir sowohl Weißbrustigel (Erinaceus roumanicus) als auch Braunbrustigel (Erinaceus europaeus), die unterschiedliche Lebensräume besiedeln. Volieren können nun aber nicht immer am Fundort aufgestellt werden. Also werden die Igel entweder im Frühjahr schonend über die geöffnete Volierentür fern vom Fundort freigelassen, oder es ist im Frühjahr eine zusätzliche Umsiedelung (Stress für das Tier!) zum Fundort notwendig. Dabei müssen die Igel natürlich den ganzen Winter über so markiert bleiben, dass sie unterschieden und dem richtigen Fundort zugeordnet werden können. Das ist durchaus machbar, aber aufwändig.

Aufwachen in Gefangenschaft

Besonders bei warmen Winter-Temperaturen erwachen Igel vorzeitig aus dem Winterschlaf. Das hängt nicht ausschließlich mit der Klimakrise zusammen, denn auch andere, als „echte Winterschläfer“ geltende Tierarten, etwa Fledermäuse, erwachen periodisch aus dem Winterschlaf. Verschiedene Spezies verfolgen unterschiedliche Strategien, mit der kalten (nahrungsarmen) Jahreszeit und den eigenen Energieressourcen umzugehen. Unabhängig davon, was der Grund für das Aufwachen ist, bedeutet das für genesene Igel in menschlicher Obhut, mehrere Monate lang in einer Voliere eingesperrt zu bleiben, obwohl sie diese vielleicht gerne verlassen würden. Manche Anlaufstellen überwintern Igel gar in kleinen abgetrennten Boxen. Wir fragen uns, ob es für ein Tier, das mehrere Kilometer pro Nacht zurücklegen kann, angenehm ist, in einem so kleinem Raum eingepfercht aufzuwachen.

Auswilderungszeitpunkt

Zudem besteht die Gefahr, Igel zu spät im Jahr auszuwildern. Denn Igel erwachen in unseren Breiten oft schon im März aus dem Winterschlaf, kurz darauf folgt die Paarungszeit. Behält man die Tiere zu lang, um beispielsweise schlechtes Wetter oder spontane Kälteeinbrüche zu berücksichtigen, nimmt man den Igeln die erste Chance, sich fortzupflanzen.

Igel sind Einzelgänger

Igel leben als Einzelgänger, die aber nicht besonders territorial sind. Einen Platz an der Futterstelle teilen sie sich durchaus, ohne, dass es zu größeren Schwierigkeiten kommen muss. Geschwister teilen sich manchmal sogar ein Nest im Winter. Wenn es einem Tier zu viel wird, kann es einfach Reißaus nehmen. Frei lebende Tiere sind aber nur bedingt mit Tieren in Gefangenschaft vergleichbar.

Auswilderungsvolieren sind sehr lange für andere Tierarten besetzt. Um so viele Igel wie möglich unterbringen zu können, wird häufig ein sehr dichter Besatz gewählt. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Tiere genug Versteckmöglichkeiten haben und sich aus dem Weg gehen können, überdies hinaus sollten die Igel ohnehin Winterschlaf halten und sich daher nicht in die Quere kommen. Doch Igel sind miteinander nicht verträglich, auch nicht auf großem Raum mit vielen Versteckmöglichkeiten. Wenn sie können, gehen sie sich aus dem Weg. Diese Erfahrung haben wir durch unsere Wildtierkamera-Beobachtungen schon sehr früh gemacht. Wir beobachteten, dass die Tiere sich gegenseitig verfolgen, fauchen und die Stacheln aufstellen. Die Gesellschaft von Artgenossen bedeutet also Stress, weswegen wir das sehr schnell unterbunden haben. Wir sprechen hier von zwei Igeln auf 9m2, also keinem dichten Besatz!

Zwei Weißbrustigel in der Außenvoliere. Das linke Exemplar zeigt Abwehrverhalten gegenüber dem rechten Igel.

Sowohl von privaten Pflegesstellen als auch von durchaus erfahrenen offiziellen Anlaufstellen hat unser Verein bereits zahlreiche Igelpatienten übernommen, die sich in der Überwinterungsmöglichkeit Bissverletzungen zugezogen haben oder durch den Stress und die hohe Besatzdichte dermaßen räudig waren, dass die Haut in Krusten abfiel.

Auswilderung von Igeln im Winter

Auswilderung im Winter über die Auswilderungsvoliere (soft release)

Früh zweifelten wir an dem Nutzen der Gefangenschaft gesunder Igel im Winter. Unsere ersten Versuche zur Auswilderung im Winter starteten 2016. Wir übersiedelten an den Stacheln markierte, stattliche, genesene Igel in eine Außenvoliere, in der sie in den Winterschlaf gingen. Anschließend öffneten wir die Tür und beobachteten, was passierte. Noch während des Winters verließen viele Igel die Voliere, manchmal kamen sie zwischenzeitlich wieder zurück. In anderen Fällen zogen „fremde“ Igel aus der Umgebung ein. Es war ein ständiges Kommen und Gehen.

Man braucht nur einmal zuzuschauen, wie schnell Igel sich ein Nest bauen können! Sie brauchen keine lange Vorbereitungszeit. Zudem bleiben Igel im Winter nicht immer im selben Nest, sondern nutzen oft mehrere Nester. Warum sollte man also Igel den ganzen Winter über einsperren?

Auswilderung im Winter am Fundort (soft release-hard release)

Nachdem die Methode mit den geöffneten Volierentüren offensichtlich funktionierte, wollten wir die Auswilderung am Fundort – wohlgemerkt, bei Plusgraden und trockenem Wetter mit Futterstelle und Häuschen – ausprobieren. Doch da wir keine inländische Auffangstation fanden, die hiermit schon Erfahrung hatte, und kein unnötiges Risiko für unsere mühsam rehabilitierten Patienten eingehen wollten, suchten wir vorab nach wissenschaftlichen Publikationen: 2019 wurde eine Arbeit zu genau diesem Thema veröffentlicht. Dabei wurden über den Zeitraum von vier Wintern 34 rehabilitierte Braunbrustigel mit einer Kontrollgruppe aus 23 wild lebenden Braunbrustigeln an fünf verschiedenen Orten in England im Bezug auf das Gewicht, die Überlebensrate und die Nestnutzung verglichen. Selbst 150 Tage nach der Freilassung (bei Temperaturen über dem Gefrierpunkt) wurde kein Unterschied zwischen den beiden Gruppen festgestellt.

Die Gefahren für Igel bestehen weniger im Winterschlaf selbst, als in der Aktivitätsphase direkt nach dem Aufwachen im Frühjahr, wo viele Igel Raubtieren oder dem Straßenverkehr zum Opfer fallen.

Unsichtbare Hintergrundarbeit

Seither haben wir auf unseren Social Media Kanälen mehrmals von Auswilderungen im Winter berichtet und wurden entweder dafür kritisiert, oder – erfreulicherweise – von interessierten Kolleg:innen nach der besagten Publikation gefragt.

In der Wildtierhilfe Wien verbringen wir unglaublich viel Zeit mit dem Beobachten unserer Tiere und dem Lesen von wissenschaftlichen Publikationen, um unseren Patienten die bestmögliche tierärztliche Versorgung und Pflege zukommen lassen zu können. In unserer Bibliothek sind hunderte Papers gespeichert, die uns in der Wildtierrehabilitation weiterhelfen. Es ist eine zeitaufwändige, aber leider unsichtbare und unbezahlte Arbeit: bei der Anreise in die Station, vor dem Schlafengehen, am arbeitsfreien Tag auf der Couch oder in einem online-Seminar. Wir teilen dieses aufwändig erworbene Wissen und unseren Erfahrungsschatz gerne, um auch externen Wildtierpatienten zu helfen und anderen Wildtierpfleger:innen vermeidbare Kosten zu ersparen.

Meist werden Auffangstationen vordergründig daran gemessen, wie viele Wildtiere sie aufnehmen können – in unserem Fall sind wir auf 92m2 Tierheimfläche quantitativ sehr eingeschränkt. Die Qualität unserer Arbeit, die sich gerade in dieser aufwändigen Hintergrundarbeit zeigt, wird hingegen häufig übersehen. Doch du kannst das ändern: Unsere Arbeit ist rein spendenfinanziert! Zeige deine Wertschätzung durch deine Unterstützung!

Quellen:

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Molony, Susie E., Claire V. Dowding, Philip J. Baker, Innes C. Cuthill, und Stephen Harris. 2006. The effect of translocation and temporary captivity on wildlife rehabilitation success: An experimental study using European hedgehogs (Erinaceus europaeus). Biological Conservation 130: 530–537.
Ploi, Kerstin et al. 2020. Evaluating the Impact of Wildlife Shelter Management on the Genetic Diversity of Erinaceus europaeus and E. roumanicus in Their Contact Zone. Animals 10: 1452.
Yarnell, Richard et al. 2019. Should rehabilitated hedgehogs be released in winter? A comparison of survival, nest use and weight change in wild and rescued animals. European Journal of Wildlife Research 65.
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Fuhrmann, Marilene. 2018. Untersuchungen zur Wildtierrehabilitation und Wiederauswilderung von Erinaceus europaeus (Braunbrustigel) und Erinaceus roumanicus (Nördlicher Weißbrustigel) in Österreich. Masterarbeit, Wien: Universität für Bodenkultur.
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Morris, Pat. 1973. Winter nests of the hedgehog (Erinaceus europaeus L.). Oecologia 11: 299–313.