Darf man junge Feldhasen anfassen?

Junger Feldhase - darf man ihn anfassen oder nicht?

Ein hartnäckiges Gerücht

Die Annahme, dass man junge Feldhasen nicht anfassen darf, da sie die Mutter sonst nicht mehr annimmt, hält sich hartnäckig. Doch stimmt das wirklich?

Feldhasenkind gefunden – was nun?

Grundsätzlich gilt für unverletzte Feldhasenkinder außerhalb einer Gefahrenzone immer: Nicht anfassen und auf keinen Fall mitnehmen. Feldhasen sind Nestflüchter, die alleine ohne Mutter und Geschwister unterwegs sind – es ist also ganz normal, einen kleinen Feldhasen vermeintlich alleine und verlassen zu sehen. So weit sind sich die meisten Auffangstationen einig.

Wer ein potentiell hilfsbedürftiges Feldhasenkind gefunden hat, sollte also unbedingt vorher mit einer Auffangstation abklären, ob dieses wirklich Hilfe benötigt, bevor es mitgenommen wird.

Stört die Mutter der fremde Geruch?

Ab und zu werden gesunde, fitte Feldhasenkinder unbeabsichtigt berührt, z.B. das bei Gartenarbeiten oder bei einem Spaziergang mit Kindern. Das Anfassen ist jedoch kein Grund, ein Feldhasenkind mitzunehmen!
Die Mutter stört sich nicht am Fremdgeruch und verstößt deshalb keineswegs ihren Nachwuchs.

Zuerst sollte man erklären, warum für sehr viele Tiere der Geruch des Nachwuchses eine große Rolle spielt. Viele Tierarten, die in sozialen Gruppen leben und auch den Nachwuchs der Verwandten säugen, sind in der Lage, den eigenen Nachwuchs von dem der Geschwister und von völlig Fremden zu unterscheiden. Das ist sowohl wichtig, um zu vermeiden, den eigenen und verwandten Nachwuchs „aus Versehen“ zu verstoßen als auch, um nicht versehentlich Energie in fremde Jungtiere zu investieren. Die Unterscheidbarkeit von verwandten und fremden Tieren ist auch in der Inzuchtvermeidung von Bedeutung. Je nachdem, um welche Tierart es sich handelt, spielt der Geruch eine sehr große oder eben eine untergeordnete Rolle.

Unter welchen Umständen scheitert eine Rückführung?

Es gibt durchaus Fälle, wo Rückführungsversuche scheitern. Das betrifft vor allem Säugetiere, die in sozialen Gruppen leben. Besonders bei Tieren in Gefangenschaft (Stress!) kann es vorkommen, dass eine soziale Gruppe bzw. die Mutter ein Jungtier nach dem Handling nicht mehr annimmt. Das kommt v.a. nach einer längeren Abwesenheit vor (z.B., wenn das Tier aufgrund einer medizinischen Behandlung isoliert werden musste) bzw. aufgrund des maßgeblich veränderten Geruchs durch anderes Futter und eine andere Unterbringung über einen längeren Zeitraum. Auch, wenn ein Jungtier ursprünglich von der Gruppe oder der Mutter verstoßen wurde, scheitert ein Rückführungsversuch oftmals. Immerhin gab es einen Grund, warum das Tier verstoßen wurde, auch wenn dieser für uns Menschen vielleicht nicht sofort ersichtlich ist. Das ist aber etwas anderes, als ein oberflächlicher Fremdgeruch durch kurzes Anfassen, noch dazu bei einem Wildtier in Freiheit.

Mutterinstinkt

Grundsätzlich wäre es für ein Wildtier, das enorme Energie(reserven) in seinen Nachwuchs investiert, absolut nicht sinnvoll, seine Jungen zu verstoßen, nur weil diese plötzlich oberflächlich anders riechen. Um Prädatoren nicht anzulocken haben Feldhasenkinder tatsächlich fast keinen Eigengeruch. Selbstverständlich nehmen sie aber den Umgebungsgeruch an. Sitzt ein Feldhase in einer frisch gemähten Wiese, riecht er nach Heu, sitzt er auf einem Acker, riecht er nach Erde. Fasst man einen Feldhasen mit Handschuhen an – wozu oft geraten wird – riecht er eben nach Handschuhen, was ebenso definitiv ein Fremdgeruch ist. Wäre das allein für die Mutter schon ein Grund ihr Junges zu verstoßen, gäbe es kaum ein Feldhasenkind, das in freier Wildbahn überleben würde.

Jetzt könnte man argumentieren, dass die Mutter sich nur an menschlichem Geruch stört, also an einem Duft, der Kontakt mit Gefahr suggeriert. Dem ist nicht so.
Warum wir das so genau wissen? Nun, irgendwie muss die Wissenschaft ja auch an Daten über Junghasen kommen. Und es gibt Studien, wo Junghasen telemetriert wurden. Dafür müssen die Forscher Feldhasenkinder fangen und per Hand mit einem Sender versehen. Würde die Mutter ihre Jungen dann nicht mehr annehmen, könnten Forschungsarbeiten dieser Art nicht gelingen.

Wie ein Gerücht entsteht

Warum hält sich dieses Gerücht also, wenn offensichtlich nichts dran ist? Ganz einfach: Die Mutter kommt nur 2x täglich in der Dämmerung zum Säugen. Ob sie das Junge wieder annimmt oder nicht ist daher sehr schwer (ohne entsprechende Ausrüstung) zu beobachten. Wir haben uns selbst schon mit dem Feldstecher auf die Lauer gelegt um es auszuprobieren und haben festgestellt: Es klappt, ist aber enorm zeitraubend und schwierig. Man muss leider auch sagen, dass sich viele Pflegestellen nicht den Aufwand machen, sich an wissenschaftlichen Publikationen zu orientieren. Viele übernehmen das, was andere namhafte Auffangstationen schreiben. Und so kommt es, dass einzelne Beobachtungen oder Falschinformationen schnell zu Erfahrungswerten und Wissen aufgeblasen werden.

Falschinformationen haben aber leider tragische Folgen für die Tiere. Dadurch passiert es nämlich immer wieder, dass junge Hasen nur aufgrund einer Berührung durch den Menschen aufgenommen werden und längere Zeit bei den Findern sind, bevor eine Auffangstation kontaktiert wird. Eine Rückführung gestaltet sich dadurch wesentlich schwieriger bis unmöglich.

Helfen Sie mit, dieses Gerücht aus dem Weg zu schaffen!

Quellen:

COOMBES HA, STOCKLEY P, HURST JL (2018): Female Chemical Signalling Underlying Reproduction in Mammals. Journal of Chemical Ecology 44 (9): 851 – 873.

FEIERSTEIN CE (2012): Linking adult olfactory neurogenesis to social behavior. Front. Neurosci. 6: 173.

KARP D (2016): Preweaning survival of brown hare leverets (Lepus europaeus). In: Kelly P, Phillips S, Smith A, Browning C (ed.). Proceedings of the 5th world lagomorph conference, Turlock, California, July 11–15, 2016 Endangered Species Recovery Program, California State University Stanislaus: 53.

MALLIA E, RUGGE C, CONSENTINO C, GAMBACORTA E, TROCCHI V, FRESCHI P (2009): Postnatal growth of Brown hare (Lepus europaeus)
in a South Italy rearing centre. Italian Journal of Animal Science 8 (2): 790 – 792.

VOIGT U, SIEBERT U (2019): Raumnutzung und Überlebensraten bei juvenilen Feldhasen (Lepus europaeus). Dissertation. Tierärztliche Hochschule Hannover – Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung.