Die Corona-Krise führt dazu, dass sich Menschen weniger im Freien aufhalten. TierschützerInnen sorgen sich um das Wohlergehen von Wildtieren, die nun nicht von Menschen gefüttert werden können. Doch gibt es berechtigten Anlass zur Sorge?
Bis ins Fernsehen haben es Berichte über anscheinend verhungernde Stadttauben, Krähen und andere Wildtiere geschafft. Die Auswirkungen von Fütterungen muss man sich aber für jede Tierart individuell anschauen. Es gibt keine allgemein gültige Aussage für alle Wildtiere. Wir beschränken uns daher in diesem Artikel auf jene Spezies, die in diesem Zusammenhang am meisten diskutiert wird: die Stadttaube.
Verhungernde Stadttauben
Wir kennen diese Diskussion auch aus Zeiten jenseits der Corona-Krise: Fütterungsgegner meinen, dass Stadttauben sich bei Nahrungsmangel weniger fortpflanzen und somit die Populationsgröße auf einem niedrigeren Niveau bleibt. Befürworter einer Taubenfütterung haben Sorge, Tauben würden in der Stadt nicht genug artgerechte Nahrung finden, dadurch verhungern bzw. durch den Stress krank werden.
Kükensterblichkeit durch Nahrungsmangel
Es gibt einige Forschungsarbeiten, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Dabei steht meist jedoch nicht die Gesundheit der Individuen im Fokus, sondern der Zusammenhang von Nahrungsmangel mit dem Fortpflanzungsverhalten und der Populationsgröße. Jedoch kommen verschiedene Untersuchungen zu unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Ergebnissen – die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.
Mehrere Untersuchungen erklären die Nahrungsgrundlage zum limitierenden Faktor bei Straßentauben, wohingegen andere Forscher keine dichteabhängige Selbstregulierung aufgrund von Nahrungsverfügbarkeit verzeichnen. Haag-Wackernagel und Stock (2016) stellen fest, dass bei einer Reduktion des Nahrungsangebots die Brutversuche zurückgehen (soweit so gut) aber auch die Sterblichkeit der Küken im Ästlingsalter zunimmt. Nach ein paar Jahren pendelt sich die Stadttauben-Population auf einem niedrigeren Niveau ein.
Folgen der Corona-Krise
Eine verminderte Nahrungsverfügbarkeit durch Corona-bedingte ausbleibende Fütterungen könnte sich also in einer höheren Sterblichkeit der Jungtauben auswirken, bis sich die Individuenzahl auf ein neues Niveau einpendelt.
Um sich auf einem Level jenseits der Spekulation bewegen zu können, wäre ein laufendes Monitoring sinnvoll. Allerdings scheitert es schon an aktuellen Zahlen der Populationsgröße – solche kann man lange suchen. Die seriöseste uns bekannte Schätzung stammt von der TOW (Stand 2017) und liegt bei 130.000-150.000 Stadttauben in Wien.
Hilfe in schweren Zeiten
Der populärste Lösungsvorschlag besteht in der Errichtung und Betreuung von Taubenschlägen. Dort sollen Tauben mit artgerechtem Futter versorgt werden, während die Eier durch Attrappen ausgetauscht werden. So hätten die Tauben genug zu fressen, ohne sich zu vermehren. Verunreinigungen durch Kot würden sich auf den Taubenschlag konzentrieren.
Im Bezug auf die Corona-Krise wirft das jedoch mehrere Fragen auf:
- Wer soll in Zeiten des Corona-Virus Taubenschläge betreuen?
- Wer kommt für die anfallenden Kosten (etwa Errichtung, Reinigung und Futter) auf?
- Wie viele Taubenschläge bräuchten wir in Wien, um die gesamte Stadttauben-Population betreuen zu können?
- Was passiert mit den Schlägen nach der Corona-Krise?
Taubenschläge zur Reduktion der Populationsgröße
Die in der Corona-Krise aufwändig und kostspielig errichteten Taubenschläge könnte man vor allem dann rechtfertigen, wenn sie dauerhaft einen tierschutzkonformen Beitrag zur Entschärfung der Stadttaubenproblematik leisten würden.
Mangelnde Erfolgskontrolle
Was ist also mit Städten, wo Taubenschläge bereits funktionieren? Nun, bisherige Erfolgsmodelle setzen in manchen Fällen auf das zusätzliche Töten oder die Sterilisation von Tauben für eine langfristige Populations-Reduktion. Auf jeden Fall gibt es aber zusätzliche Fütterungsverbote außerhalb der Taubenschläge. Städte wie Augsburg betreuen zwar viele Taubenschläge, die Erfolgskontrolle findet aber lediglich durch die Anzahl der ausgetauschten Eier und den entfernten Kot statt.
Limitierende Faktoren
Ganz so einfach ist das jedoch nicht: Stadttauben sind sogenannte „r-Strategen“, die einen Lebensraum sehr schnell bis an die Grenze der ökologischen Tragfähigkeit besiedeln. Verluste werden durch hohe Reproduktionsraten schnell wieder ausgeglichen. Man weiß mittlerweile, dass nicht nur Nahrung, sondern das Vorhandensein von Brutplätzen einen zentralen Einfluss auf die Populationsdynamik von Stadttauben hat. Hat ein dominanter Täuber einen Taubenschlag als neuen Nistplatz für sich auserkoren, besetzen zuvor unterdrückte Tauben die frei gewordene Nische für ihre eigene Brut. Durch diesen ausgleichenden Effekt, den man auch von anderen Tierarten kennt, würde letztendlich nicht der angestrebte Rückgang der Individuenzahl stattfinden. Eine Publikation (Jaquin et al. 2010) kommt sogar zu dem Ergebnis, dass das Austauschen von Eiern dazu führt, dass mehr (!) Brutversuche unternommen werden. Zusätzlich nimmt durch die höheren Reproduktionskosten die Qualität der Eier und damit die Fitness der Weibchen ab.
Manche Forscher (Haag 1993, Jacquin et al. 2010) kommen also zu dem Schluss, dass das Vorhandensein von Nistplätzen wichtig für die Populationsgröße von Stadttauben ist. So wird die konsequente Beseitigung vorhandener Brutplätze durch Gebäudesanierungen als wirksamste und einfachste Methode zur Reduktion von Stadttauben-Beständen genannt.
Was bringen Taubenschläge?
Taubenschläge sind vor allem dann sinnvoll, wenn es darum geht, langfristig lokale Probleme zu entschärfen. Die Taubenschlag-Tiere sind bei vorbildlicher Betreuung wohlgenährt und fit. Nicht vergessen werden sollte aber, dass sich die Populationsdynamik künstlich verändern kann, sollten nicht alle Tauben einen Taubenschlag nutzen. Ob es positiv ist, dass z.B. die Eier dominanter Tiere ausgetauscht werden, die einen Schlag besetzen, während schwächere Tiere in der Stadt brüten können, sei dahingestellt. Für einen tatsächlichen Populations-Rückgang bzw. eine Hilfe für alle Stadttauben Wiens bräuchte es jedenfalls flächendeckend professionell betreute und wissenschaftlich begleitete Taubenschläge. Daneben wären weitere Maßnahmen notwendig, wie das Verschließen von Brutplätzen und ja, auch ein Fütterungsverbot abseits der Schläge. Brutplätze zu verschließen hätte aber unter Umständen negative Auswirkungen auf andere, geschützte Arten, etwa Turmfalken, die diese Orte ebenfalls nutzen.
Handlungsempfehlung für die Corona-Krise
Die Wildtierhilfe Wien steht, unter Abwägung positiver und negativer Aspekte, Wildtierfütterungen allgemein skeptisch gegenüber. Ganz klar halten wir die Fütterung von Wassergeflügel (noch dazu im Frühjahr) für hoch problematisch.
Stadttauben sind aber keine Wildtiere, sondern verwilderte Haustiere. Daher tragen wir für sie eine besondere Verantwortung. Es gibt bisher keine Daten, die tatsächlich Rückschlüsse auf die Corona-Krise zulassen. Wir maßen uns daher nicht an, zu Fütterungen aufzurufen oder die Errichtung von Taubenschlägen als Bewältigungsmöglichkeit der Corona-Krise vorzuschlagen. Ob es überhaupt etwas zu bewältigen gibt, wissen wir schlichtweg nicht. Wir wissen noch nicht einmal, ob tatsächlich signifikant weniger gefüttert wird, oder, ob einfach nur weniger Abfälle gefressen werden. Es muss sich erst zeigen, ob es Abhängigkeiten durch Fütterungen gibt und wie gravierend diese sind. Vor allem im Frühjahr, bei reichem Angebot natürlicher Nahrung. Unser Verein versorgt jährlich mehrere hundert Stadttauben. Aktuelle Pfleglinge sind bisher nicht in einem besonders schlechten Ernährungszustand zu uns gebracht worden.
Update 30.4.2020: Alle unsere Pfleglinge werden bei der Aufnahme gewogen. Bislang konnten wir nicht feststellen, dass vermehrt hungernde Tauben zu uns gebracht werden.
Schlussendlich stehen wir auch vor der Frage, ob evtl. bestehende Abhängigkeiten von Fütterungen nicht von Vornherein vermieden werden sollten.
Stay home!
Auch als Tierschutzverein müssen wir ganz klar sagen: Ihre Gesundheit steht im Vordergrund. Die meisten Wildtiere sind sehr gut in der Lage, ihr Leben selbst zu meistern. Geben Sie ihnen diese Chance. Verlassen Sie nicht für eine Fütterung das Haus in einer Zeit, wo es darum geht, sich selbst und seine Mitmenschen vor einer Ansteckung zu schützen. Tragen Sie durch diszipliniertes Verhalten dazu bei, dass die Krise bald überstanden ist. So können wir alle früher wieder unserem Alltag nachgehen und uns wie gewohnt um die Tiere kümmern.
Quellen:
- Giunchi D, Albores-Barajas Y, Baldaccini NE, Vanni L, Soldatini C (2012): Feral pigeons: problems, dynamics and control methods. In: Soloneski S, Larramendy ML (eds) Integrated pest management and pest control-current and future tactics. Tech, Rijeka, pp 215–240
- Haag D (1993): Street Pigeons in Basel. Nature 361: 200, ISSN 0028-0836
- Haag-Wackernagel D (1995): Regulation of the street pigeon in Basel. Wildl Soc Bull 23: 256–260
- Hetmański T, Barkowska M (2007): Density and age of breeding pairs influence feral pigeon, Columba livia reproduction. Folia Zool 56 (1): 71–83
- Jacquin, L, Cazelles, B, Prevot-Julliard A-C, Leboucher G, Gasparini J (2010). Reproduction management affects breeding ecology and reproduction costs in feral urban Pigeons (Columba livia). Canadian Journal of Zoology, Vol. 88, No. 8: 781-787, ISSN 0008-4301
- Müller M (2002): Tierärztliche Begleitung bei der Umsetzung der tierschutzgerechten Bestandskontrolle von Stadttaubenpopulationen nach der Loseblattsammlung des Tierschutzbeirates des Landes Niedersachsen. Dissertation Tierärztliche Hochschule Hannover: 135
- Stock B, Haag‐Wackernagel D, Martinez‐Padilla J (2016): Food shortage affects reproduction of Feral Pigeons Columba livia at rearing of nestlings. Ibis, doi: 10.1111/ibi.12385
- Vater G (1999): Bestandsverminderung bei verwilderten Haustauben, Teil 1. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforsch. –Gesundheitsschutz 42: 911-921